Shi Tou

"Was hat mein Vater gesagt?" – "Dass er das Geld schon rübergeschickt hat." – "Und mehr nicht?" – "Das war's."

Der 10jährige Zhu Hungbo wird von allen immer nur Shi Tou, auf deutsch Steinkopf, genannt. Er lebt mit seiner Großmutter in einem kleinen Dorf in Zentralchina, seine Eltern arbeiten in einer näher gelegenen Stadt, weil das die einzige Möglichkeit ist, Geld zu verdienen. Kein Einzelfall, die meisten Kinder seiner Schule sehen ihre Eltern höchstens zum Neujahrsfest - das restliche Jahr müssen sie sich selbst beschäftigen, mit der Schule als einziges Erziehungsmittel stoßen sie kaum auf Vertrauen und werden beim Erwachsenwerden fast vollständig allein gelassen. So vertreibt sich Shi Tou mit seinem besten Freund Cai – genannt "Mondgesicht" - neben der Schule und Hausarbeiten die Zeit mit Fußballspielen und Süßigkeiten essen. Als Shi Tou zusammen mit einer Urkunde für seine guten Schulleistungen einen Fußball geschenkt bekommt, werden seine Klassenkameraden eifersüchtig und schikanieren Shi Tou und Mondgesicht, die daraufhin ganz allein dastehen und weder Lehrer noch Verwandte im Rücken haben. So führt uns der Film durch das nüchterne Leben von chinesischen Landkindern.

Durch die einfache Kameraführung bekommt der Zuschauer einen realistischen Blick für das Leben der Kinder, begleitet von vereinzelten panoramischen Aufnahmen des Dorfes, auf denen man am Horizont die Hochhäuser der Metropole erblickt – der Ort, der für alle so weit weg ist, aber die Quelle von so vielem ist. Die Stimmung ist fast gedrückt, durch wenige Worte und dem Fehlen von Hintergrundmusik wird die Einfachheit des Lebens unterstützt, der Zuschauer fühlt sich mittendrin und wird vom Schicksal der vielen Kinder berührt.

Autorität vor den Lehrern und Großeltern, die Bildung ist das wichtigste. "Denk dran, immer fleißig lernen" ist das Einzige, was Shi Tou bei der Übergabe seiner Urkunde gesagt bekommt. Ein guter Schüler zu sein scheint das zu sein, worauf es ankommt - damit sich das schwer erarbeitete Geld der Eltern auch lohnt. Ein Lachen ist selten zu sehen, höchstens eben beim gelegentlichen Fußballspielen. So schafft es der Film dem Publikum die Bedeutung eines einfachen Fußballs für ein paar Schuljungen so nahezubringen, dass jeder nachdenklich den Kinosaal verlässt, sich fragend, ob die häufige Familiensituation in chinesischen Provinzen wirklich das richtige ist. Denn das Streben der Eltern ihren Kindern ein bestmögliches Leben zu finanzieren bringt viele Opfer mit sich.

Der Hauptdarsteller, der im wirklichen Leben ebenfalls Zhu heißt, spielt die Rolle des zurückgelassenen Jungen unglaublich überzeugend, vielleicht auch, weil er selbst auch ohne Eltern aufwachen muss und dieselben Emotionen, die er im Film zum Ausdruck bringen soll, schon vielmals gefühlt hat.

So zeigt der Film auf eine berührende und durch die Nüchternheit ausdrucksstarke Weise dem Publikum eine Welt, die für uns vielleicht weit weg und kaum vorstellbar ist, aber existiert. Im Publikumsgespräch verrät uns der Regisseur Zhao Xiang, dass er die Idee für seinen Film aus einer Schlagzeile in der Zeitung gehabt habe, die von einem Jungen erzählt, der 16 Kilometer zu Fuß für einen Ball gelaufen ist. Obwohl die Situation in China selbst nicht ungewöhnlich sei, oder gerade deshalb, wolle er darauf aufmerksam machen und dazu anregen darüber nachzudenken, was die wirklich wichtigen Dinge im Leben und vor allem in der Kindheit seien.

Empfohlen ist "Shi Tou" ab 8 Jahren in der Sektion K-Plus, ein Alter, das ich auf jeden Fall für angemessen halte. Obwohl bei der Premiere am Samstag im ZOO-Palast hauptsächlich Erwachsene den Film anschauten, waren auch viele Eltern mit ihren Kindern da. Grade für Kinder kann der Film besonders berührend und anregend sein, denn erst durch solch einen Blick in andere Länder wird vielen erst klar, was für ein Glück sie haben. So antwortete der Regisseur Zhao Xiang auf die letzte Frage eines Jungen, wieso der Film denn so traurig ende, damit, dass es eben Realität sei. Dass er zeigen wolle, wie sich hunderttausende Jungen und Mädchen beim Aufwachsen fühlen würden; was ihnen nicht gegeben werden könne und ihnen fehle. Am Ende des Publikumsgespräches wendet er sich noch direkt an alle Kinder und Eltern im Publikum und macht uns allen klar wie glücklich wir uns schätzen können. Und gerade wie sehr wir es auch schätzen müssen, die Möglichkeit zu haben, mit Eltern aufzuwachsen, Personen um uns zu haben, denen wir uns anvertrauen können, die uns Dinge beibringen können und mit denen wir Lebenserfahrungen erleben und teilen können. Denn diese Möglichkeit ist nicht allen gegeben.

13.02.17, Clara Bahrs

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